ZB Behinderung & Beruf 4/2019

ZB 4 I 2019 W ie gut, dass Dennis Schneider keine Höhenangst hat. Geschickt lenkt er den beeindruckend großen Stap- ler an das Hochregal heran. Dann bewegt sich die verglaste Fahrerkabine samt Fracht wie ein Lift nach oben bis unter das riesige Hallendach, wo er die Ware vorschriftsgemäß einlagert. Dennis Schneider arbeitet seit fünf Jahren im Logistikzentrum der Firma Beurer in Uttenweiler in Baden-Württemberg.Wer ihm bei der Arbeit zuschaut, kann kaum glauben, dass der 27-Jährige eine geisti- ge Behinderung hat. NEU DENKEN „Menschenmit einer geistigen Behinde- rung wird in unserer Gesellschaft seit jeher wenig zugetraut. Meist ohne Schul- und Berufsabschluss gelten sie per se als erwerbsunfähig“, beklagtBertholdDeusch vom KVJS-Integrationsamt Baden-Würt- temberg. Er tritt diesem Vorurteil ent- schieden entgegen: „Das ist ein Denken von vorgestern!“ Heute weiß man: Eine geistige Behinderung muss nicht von beruflicher Teilhabe auf dem allgemei- nen Arbeitsmarkt trennen. „Für uns ist es eine vielfach bestätigteTatsache, dass sie trotz intellektueller Einschränkungen erstaunliche berufliche Kompetenzen entwickeln können“, betont der Fach- mann aus Karlsruhe. GEISTIG BEHINDERT? Menschen mit einer geistigen Behinde- rung bilden keine einheitliche Gruppe mit fest umschriebenen Eigenschaften. Die kognitive undmotorische Leistungs- fähigkeit wie auch das sozial-emotiona- le Verhalten sind individuell sehr unter- schiedlich ausgeprägt. Es gibt Menschen mit einer geistigen Behinderung, die alltägliche Abläufe weitgehend selbst- ständig bewältigen können, andere sind dabei umfassend auf Hilfe angewiesen. ZentralesMerkmal einer geistigen Behin- derung ist die erhebliche Beeinträchti- gung der kognitiven Fähigkeiten infolge einer angeborenen oder früh erworbe- nenHirnschädigung oder Hirnfunktions- störung. Die häufigste genetische Ursache einer geistigen Behinderung ist das Down- Syndrom. Andererseits gibt es erworbene zerebrale Schädigungen zum Beispiel durch Sauerstoffmangel bei der Geburt oder durch eine Hirnhautentzündung. Die Behinderung zeigt sich im frühkind- lichen Alter meist als deutliche Entwick- lungsverzögerung, die alle Bereiche der kindlichen Entwicklung betrifft, andenen Lernen wesentlich beteiligt ist. Menschen mit einer geistigen Behinde- rung haben vielfach eine anerkannte Schwerbehinderung. Das hindert sie aber nicht daran, sich beruflich zu qualifizie- ren und eine Beschäftigung auf dem erstenArbeitsmarkt aufzunehmen. Denn ärztliche Gutachten, Intelligenztests und der Grad der Behinderung sagen oft wenig darüber aus, welchenAnforderun- gen an einemArbeitsplatz ein behinder- ter Mensch individuell gewachsen ist. RAUS AUS DER WERKSTATT Fast 90 Prozent dieser jungenMenschen – rund 91.000 – besuchen eine Sonder- oder Förderschule. 1 Viele von ihnen wechseln danach in eine Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM). 2018 arbeiteten dort 236.000 Menschen mit einer geistigen Behinderung. 2 1 Kultusministerkonferenz, 2 BAGWfbM Dennoch ist dieser Weg nicht zwingend. Seit einigen Jahren werden bundesweit verstärkt Anstrengungen unternommen, den allgemeinen Arbeitsmarkt für diese Personengruppe zu erschließen. Vor allem mithilfe einer vertieften Berufs­ orientierung für Schülerinnen und Schü- ler konnten regional beachtliche Erfolge erzielt werden. Allein in Baden-Württem- berg haben seit 2005 fast 5.000 Men- schen mit einer geistigen Behinderung eine sozialversicherungspflichtige Be schäftigung aufgenommen. - LERNEN DURCH HANDELN „VieleMenschendenken:Wir sinddumm. Wir können nichts lernen. Das stimmt nicht! Wir lernen anders. Wir lernen manchmal langsamer oder brauchen besondere Unterstützung. Deshalb wol- len wir Menschen mit Lernschwierigkei- ten genannt werden.“ Das schreiben Betroffene auf derWebsite von „Mensch zuerst – Netzwerk People First Deutsch- land e. V.“, einer Selbstvertretungsverei- nigung von Menschen mit einer geisti- gen Behinderung – so die gebräuchliche, auch imSGB IXverwendeteBezeichnung. Lernen könnenMenschenmit einer geis- tigen Behinderung vor allemdurch prak- tisches Handeln in lebensnahen Situati- onen, wenn sie den Sinn und den Zusammenhang ihres Tuns verstehen. Bei professioneller Förderung erreichen sie teilweise Arbeitsleistungenwie nicht behinderteMenschen. Die Erfolgsformel für ihre berufliche Inklusion lautet: die individuellen Anlagen erkennen und durch gezieltes Job-Coaching eine pas- sende Arbeit in einem Betrieb erschlie- ßen. „Wichtigster Berater und Begleiter für die betroffenen Menschen und ihre Arbeitgeber ist der Integrationsfach- dienst. Er kümmert sich umdie notwen- dige Unterstützung – von Anfang an“, so Berthold Deusch, der beimKVJS-Integra- tionsamt das Referat „Koordinierung der Integrationsfachdienste und Arbeits- marktprogramme für schwerbehinderte Menschen“ leitet. Das Beispiel von Dennis Schneider zeigt, wasMenschenmit einer geistigenBehin- derung zu leisten imstande sind, wenn ihre Entwicklung gefördert wird. Obwohl er nur wenig lesen und schreiben kann, hat er auf anderemWeg viel gelernt und erreicht: den Staplerschein, dazu die Berechtigung zum Führen eines Sonder- fahrzeugs, den Pkw-Führerschein, ein Auto und sogar eine eigeneWohnung. ■ SCHWERPUNKT 11 Filmporträt Auf YouTube gibt es neben weiteren Beispielen einen Film über Dennis Schneider, der ihn bei der Arbeit zeigt: www.youtube.de , Suchbegriff „BVE KoBV KVJS“ (ca. 4 Minuten)

RkJQdWJsaXNoZXIy NzQxMzc4